MAGIE: EINE CHRONIK
Du schreibst über Magie, das heißt, du schreibst über dich selbst. Unendlich.
Der Tag ist windig und humorlos: Die Sonne versteckt sich hinter grauem Himmel und bereitet ihre großartige Rückkehr vor, vielleicht in ein oder zwei Wochen (doch wer soll Prognosen wagen in einer Welt, in der nur noch die Reste einer Ozonschicht verbleiben?). Du sitzt an deinem Schreibtisch in deinem staubigen Zimmer, tippst herum, experimentierst mit der Materialisierung von Verwundbarkeit, als es dich plötzlich trifft – du bist die zentrale Figur in deiner eigenen Geschichte. Und der Leser auch. Und die 89-jährige Frau, die eine Etage über dir wohnt. Und die Hunderten von Leichen auf dem Friedhof in der Nähe deines Hauses. Und zum Teufel, sogar dein Hund, der zu deinen Füßen döst, sorglos und gehorsam.
Ein Herbsttag: Elstern versammeln sich in kommunistischer Manier auf dem Ast eines kahlen Baumes vor der Dorfkirche, bereit, die Morgendämmerung zu verkünden, doch unfähig in der zu schweren Luft (und wer soll in Kriegszeiten singen?). Du sitzt wieder in einem staubigen Raum, aber nicht vollständig. In diesem staubigen Raum, einem naiven Versuch, die Definition von Schlafzimmer und Küche zu vereinigen, beugt sich deine Großmutter über den Herd und spielt mit kleinen Rosmarin- und Thymiangläsern herum. Die Fabrik öffnet in zwei Stunden, also beeilt sie sich. Beeilt sich in eine Routine, die von einigen Politikern festgelegt wurde, die sich irgendwo um бог знает что streiten. Wir schreiben das Jahr 1942.
Der Frühling ist im Dorf angekommen und die Erde ist wie ein Kind, das Gedichte auswendig kennt. Eine rostige Münze, die von der Strömung mitgebracht wird, kollidiert mit einem Stein am Ufer eines Flusses, der so kalt ist, dass sich die Fische Flügel wünschen. Eingeworfen hatte ihn der Goldschmiedlehrling Bastian, der in seiner fröhlichen Art sein Glück in die Hände von Mutter Natur gelegt hatte. Ein Dummkopf, Bastian (doch wer ist schon bei Verstand, wenn er verliebt ist?). Ein Ring in der Hand, eine Frage im Kopf, der Lehrling durchquert den Wald. Erst als er vor den Toren seines Dorfes ankommt, schlägt ihm ein übler Geruch entgegen: fleischig, verfault und unheilvoll …
Die Sonne geht unter. Irgendwo im Dorf wurden drei Hexen wegen ihrer Magie auf Eichenpfählen verbrannt. In der Abenddämmerung mit dem Teufel zu tanzen wird einem im Morgengrauen das Leben kosten, erklärte der Priester, bevor er die armen Dinger in Brand steckte. Irgendwo im Dorf hängt der Kopf des Goldschmiedelehrlings leblos am Ast eines Baumes. Und sag mir, Liebling, warst du nicht da, um die Geschichte zu bezeugen? Warst du nicht die rostige Münze oder der Fluss oder der Vogel, der auf diesem verdammten Eichenpfahl landete? Ich habe dein Lied an diesem Begräbnistag gehört, du hast von Tragödie und Liebe gesungen, von der Hoffnung nach dem Tod. Weil sich der Kreis wiederholt, sang dein Refrain, und die Schnecke beißt sich in den Schwanz, selbst wenn sie getötet wird. Wir schrieben das Jahr 1484.
Ah, wie das Vergehen der Zeiten nur eine Illusion ist … deine Großmutter noch nicht geboren, die Hexen noch nicht verbrannt, und doch lebt ihr alle. Im Haus eines Sklaven, in DaVincis.
Magnum Opus, im Winterschlaf eines Bären, in einem geduldig korrodierenden Felsen in einem noch nicht geschnitzten Berg – du lebst.
Der Tag ist windig und humorlos: Die Zeit fließt noch nicht durch die Adern des Universums und die Erde ist nichts anderes als ein gelobtes Land in den Händen eines einsamen Gottes. Das heißt, es gibt keinen Wind oder Humor oder Tag. Majestätische Sterne kollabieren und explodieren, verstreuen ihre angereicherten Eingeweide über die Galaxien und schreien ihren Schmerz in das erbarmungslose Vakuum. Das Eisen, das dein Blut rot färbt, bildet sich erst, eine Lobrede auf die gefallenen Supernovas. Die Atome, aus denen dein Körper besteht, schreien auch: In den Schmelztiegeln, die leichte Elemente in ihrem Kern zu schweren Elementen kochen, schreien sie. Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und all die grundlegenden Bestandteile des Lebens werden Teil von Gaswolken, die kondensieren, zusammenbrechen, aus Schmerz schreien und die nächste Generation von Sternen gebären. Und Licht, so viel Licht überall, wie tausend treue Reisende, die sich exponentiell vermehren. Und mittendrin lebst du. Du bist das Universum, das sich selbst einen Sinn gibt, ein weinendes Baby, das nach Worten sucht. Du bist die Magie, die ein Gefäß sucht, in das sie verschüttet werden kann.
Der Tag ist windig und humorlos: Es gibt nur Magie. Es gibt nur dich.
Und dann plötzlich Licht.