"Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher aufbohren, ohne sie füllen zu können." (Aus: Giovanni Guareschi, zitiert von Anne Sophie Meincke: Was ich noch sagen wollte. Philosophie Magazin 2023.)
Der Tag, an dem ich begann, zu denken, war der Tag, an dem ich begann, zu sterben und zu gebären.
Der Mensch als Phönix, dessen Verstand einem fortwährenden Gestaltwechsel unterzogen wird, ist kein vernunftwidriges Sinnbild. Keineswegs sogar: Durchlebt der Mensch zwar keine tatsächliche, physische Tötung und Wiederbelebung, wenn aber in metaphorischer Hinsicht verstanden, eine sehr wohl kognitive. Dabei fungiert der Philosoph als die antreibende Kraft, der Auslöser hinter der Verwandlung. Er ist der Henker des Menschen.
Doch ist der Philosoph nicht ausschließlich imstande, den Verstand des Menschen aufzubohren. So vermag er auch, ihn zu füllen, nachdem er ihn geleert hat. Allein die Bereitschaft des Patienten – des Individuums – ermöglicht ihm, seiner Berufung vollends nachgehen zu können, aufzubohren und wieder zu füllen. Füllung ist keine Unmöglichkeit, ganz im Gegenteil – sie ist die Höchstform des philosophischen Könnens und übersteigt das Geschick desjenigen Philosophen, der lediglich die Kunst des Aufbohrens beherrscht.
Doch was bezeichnet dieses „Aufbohren“ und „Füllen“ eigentlich? Worin besteht die Aufgabe des großen Philosophen, des Zahnarztes der Menschheit?
Der Philosoph verschreibt sein Leben einer ständigen Baustelle.
Er rüttelt durch seine Überlegungen und Thesen an den Weltbildern der Leute und reißt ihnen so das feste Fundament von dem, was sie bisher als richtig und falsch wahrgenommen haben, unter den Füßen weg. Doch ist er nicht nur Zerstörer und vernichtende Kraft. In edler Manier streckt er eine rettende Hand denjenigen zu, die er zuvor durch seine Worte ins Taumeln gebracht hat und hilft ihnen, sofern diese Hilfe auch angenommen wird, auf einer bebenden Erde wieder Fuß zu fassen. In weiterer Folge baut er ein Haus, Wohnsiedlungen, Städte. Der Mensch wird sein Bürger und in seinem Haus beherbergt sein, bis er sich umhören und durch die Worte eines anderen Philosophen gefüttert, nachdenken und an seiner Behausung zweifeln wird. Sein Haus wird über ihm zusammenbrechen und er wird sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause begeben. Verweilt er ewiglich im heilen Zuhause oder auf den Trümmern des ehemaligen Hauses, wird sein Denken unausweichlich stagnieren.
Die Zusammensetzung des Philosophen als zerstörende Macht und erlösender Heiler ist die grundlegende Voraussetzung für den Fortschritt der Menschheit. Allein die sich ergänzende Zweiseitigkeit seines Wesens ermöglicht dem Menschen einen Wandel zu vollführen und nicht in einem Zustand des verzweifelten Irrens oder des herrlichen Schwelgens zu verharren.
Letztendlich erklärt sich der Mensch zu seiner beständigen Aussetzung von Zerstörung und Wiederaufbau bereit, sobald er sich mit der Philosophie vertraut macht. Selbstverständlich muss er nicht die Lehre desjenigen Philosophen übernehmen, der seine bisherigen Weltanschauungen unter neuem Gedankengut begraben hat. Viel eher ist ihm als Individuum die Freiheit zugesprochen, sich auf eine Reise nach Erkenntnissen zu begeben und seine persönliche Wahrheit unter unzähligen Betrachtungsweisen zu finden.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, deutscher Philosoph, hat mein Haus zerstört und an dessen Stelle ein neues errichtet. Seine Theorie von den drei Stufen des Geistes hatte mich bei erstmaliger Konfrontation zum Überlegen gebracht und – wie sich später herausstellte – mein bisheriges Verständnis von der Welteigenschaft auf den Kopf gestellt. Zu diesem Zeitpunkt kenne ich Hegel den Zerstörer, Hegel, der meine Unterkunft zermalmt hat, doch wollte ich mich nicht der Verzweiflung hingeben und entschied, seinen Lehren meine Aufmerksamkeit zu gewähren. Wie sich offenbarte, hatten Hegels Gedanken mein Denken und Wahrnehmen verwandelt und noch viel erstaunlicher – ein gänzlich neues Haus auf den Ruinen des alten erbaut.
So darf der Mensch die Fähigkeiten des Philosophen nicht lediglich auf seine Kraft des Aufbohrens reduzieren, sondern muss in gleicher Weise auch seine Begabung zur Füllung von Lücken berücksichtigen. Ja, der Philosoph ist wie ein Zahnarzt fähig, Veränderungen am Menschen vorzunehmen, doch wo der Zahnarzt den Willen des Patienten zu eben jener Veränderung benötigt, muss auch der zu Belehrende bereit sein, volle Disposition über ihn selbst an den Philosophen abzutreten. Allein die Furcht und Ablehnung von Destruktion der bisherigen Wahrheit der Einzelperson hindert sie daran, sich in weiterer Folge an bislang unbekannten Erkenntnissen zu ergötzen und einen frischen Blickwinkel auf die Gesamtheit der Welt zu erhalten.
Wie auch der Phönix muss der Mensch also bereit sein, durch verschiedene Blickwinkel unterschiedlicher Philosophen in seinem Denken dauerhaft zu sterben und wiedergeboren zu werden. Die Missbilligung von Weisheit ist ein viel größeres Übel als der temporäre Tod der individuellen Ideologien. Wer nicht denkt, der stagniert. Wer nicht denkt, verschwendet sein einzigartiges Potenzial als Mensch, dauerhaft über sich selbst hinauszuwachsen, zu sterben und sich selbst in neuer Form zu gebären.
Zu behaupten, der Philosoph wäre lediglich in der Lage, „aufzubohren“ und nicht „aufzufüllen“, ist also eine maßlose Unterschätzung seines Talents. Der Einfluss, den große Philosophen jahrhundertelang auf unsere Wahrnehmung gehabt haben und der ihnen immer noch zuteilwird, stellt dabei den eindeutigsten Beleg dafür dar, dass sie die Menschheit nicht nur mit Fragen peinigen, sondern auch Antworten darbringen, die ganze Löcher füllen können.
Schlussendlich ist es die individuelle Aufgabe jeder Einzelperson, in einem Zyklus aus Tod und Reinkarnation die wundervolle Welt der Philosophie zu bewandern, in Häuser einzuziehen, diese allerdings auch bestimmt hinter sich zu lassen, sobald die Zeit reif ist. Dabei soll er nicht Verzweiflung walten lassen, sobald er glaubt, sein vertrautes Denken wäre vernichtet und ihm das Fundament zum Leben genommen worden. Er muss nur wachsam die Augen offenhalten, lauschen und jemanden finden, dessen Gedanken die aufgebohrten Löcher füllen werden.