Das Konstrukt des MomentumsIch bin die Zeit. Andauernd versuchen die Menschen mich festzuhalten, die Macht über mich zu erlangen, mich zu beugen, die Kontrolle über mich zu gewinnen. Doch sie scheitern. Wie Sand riesle ich durch ihre zerbrechlichen Finger und je mehr Aufmerksamkeit sie mir schenken, umso schneller beginne ich sie in den unendlichen Strudel des Lebens mitzureißen. Da bringen ihnen die Kompasse der Vergänglichkeit auch nichts, womit sie jeden einzelnen meiner Schritte, mein Ticken des Sekundenzeigers beobachten, aus Angst, mich aus den Augen zu verlieren. Mir erscheinen die Grübeleien der Menschenwelt amüsant, wenn sie sich tagtäglich den Kopf darüber zerbrechen, was wohl nach der von mir bereitgestellten Ressource geschieht. Sie sind doch nur kleine Punkte in den unendlichen Weiten des Universums.
Meine Zeiger bewegen sich Millimeter um Millimeter. Das Ticken meines Uhrwerks, meine Glockenschläge ertönen auf die Sekunde genau zur Mittagszeit auf dem Rathausplatz. Die Sonne strahlt vom blitzblauen Himmel, ein wunderschöner Frühlingstag. Beschäftigte Menschen eilen umher, sind auf dem Weg nachhause oder auf dem Weg zur Arbeit, treffen sich mit Gleichgesinnten, die ihnen am Herzen liegen oder erledigen die wöchentlichen Einkäufe. Ich mag es, ihnen zuzuschauen, wie sie ihren Alltag leben, höre ihnen auch gerne zu. Egal, ob sie sich über ihren Tag beschweren oder sich darüber freuen. Es herrscht ein reges Treiben, in dem man leicht den Überblick verliert, von dem man sich leicht anstecken lässt. Wie ein Lauffeuer breitet sich der Stress wie eine Krankheit aus. Ist ein Wesen davon infiziert, dauert es nicht lange, bis sich ein zweites darüber beklagt. Umso mehr bewundere ich jene Menschen, die gegen diese Krankheit immun sind oder zumindest Antikörper aufweisen. Sie bilden den Gegenpol zu dieser Unruhe. Solche Individuen sind selten. Während andere im selbst kreierten Chaos versinken, von Termin zu Termin eilen, halten diese reflektiert inne. Das sind diejenigen, denen ich besonders gerne zuhöre. Sie hüten mich wie ihren wertvollsten Schatz, nehmen sich in dieser rasenden Welt gezielt die Zeit, ihre Schritte zu verlangsamen.
Eine Frau Mitte zwanzig, zwar bereits erwachsen, aber noch immer von einer gewissen Unbeschwertheit gegenüber dem Leben, sitzt gedankenverloren in einem kleinen Café inmitten der Hektik. Davon zeigt sie sich allerdings unbeeindruckt und starrt auf ihr Handgelenk. An dieser Stelle befindet sich eine beinahe unscheinbare Armbanduhr, die durch meine Kraft mit all den anderen Uhren im gleichen Takt schlägt. Obwohl sie mich auf diese Weise wahrnimmt, ist ihre Wahrnehmung begrenzt. Sie denkt, sie würde mich kennen, würde durch den von Menschenhand erschaffenen Mechanismus den Überblick behalten. Gedankenverloren wendet sie ihren Blick ab, richtet ihn auf die dampfende Tasse Kaffee vor sich auf dem kleinen runden Tisch, aus der Rauch sich windend, gleichsam unsichtbaren Gedanken in die Luft steigt. Sie macht auf mich einen antriebslosen Eindruck, als hätte sie nichts im Leben, das ihr Freude bereitet. Meine Präsenz bleibt ihr verborgen. Sie hat meinen Ruf noch nicht vernommen. Ich verteile Ideen und Gedankenanstöße an diejenigen, die bereit sind, etwas zu verändern. Dies bemerken jedoch nur jene, die mir zuhören, auf ihre Umgebung achten, gewillt sind, meinen fragilen Ruf zu vernehmen. Dazu dränge ich sie auch nicht, dazu dränge ich niemanden. Ich habe unendlich viel Zeit. Es liegt in ihrer Hand. Es ist ihre Entscheidung.
Ich flüstere ihr die Worte zu, die das Potenzial besitzen, alles Grundlegende eines Menschenlebens zu verändern. Jetzt oder nie. Es sind diese drei einfachen Worte, die den entscheidenden Wendepunkt markieren könnten. Dieser simple Satz ermöglicht ein Umdenken. Das Wichtigste ist und bleibt, sich vor dieser Veränderung nicht zu verschließen. Meine Stimme gleicht einem sanften Glockenklang, der hauchdünn ertönt. Eine ganze Weile lang wirkt es, als blieben ihr meine Gegenwart verschlossen. So wie dem Rest der Menschheit, die in ihrer reizüberfluteten Realität den Boden unter den Füßen verlieren, immer tiefer und tiefer fallend, oft unwissentlich. Dann aber spüre ich, wie die Frau im Café ihren Kopf hebt. In genau diesem Moment bemerkt sie ein kleines Mädchen, kaum fünf Jahre alt, als die Türglocke ertönt und das noch so kleine Wesen den Raum betritt. Ihre Mama hält sie an der Hand, wirkt eher gestresst, bestellt einen Latte-Macchiato für sich und eine Tasse Kakao für die Kleine an der Theke. Sie sieht sich nach freien Sitzplätzen um. Als die Bestellung abgeschlossen ist, bewegen sich Mutter und Tochter auf einen freien Tisch zu, direkt gegenüber der jungen Frau. Diese lässt das Duo nicht aus den Augen. Während die Mutter eilig ihre Handtasche abstellt und ihren Kaffee schlürft, kramt ihre Tochter darin herum, holt Papier und Stift heraus. Ohne zu zögern, beginnt sie zu malen. Konzentriert wagt sie einen Farbstrich nach dem anderen. Bewundernd beobachtet die junge Frau das Kind, selbst unwissend, weshalb. Plötzlich springt die Mutter auf, das Handy am Ohr, den Kaffee in der Hand. Hektisch sagt sie, sie habe die Uhrzeit übersehen, vergessen, mich zu beachten. Eilig verstauen die beiden ihre Habseligkeiten, schnappen Kaffee und Kakao, rauschen durch die Tür hinaus. Eine Sache vergessen sie. Die Zeichnung. Durch den erzeugten Windhauch der Tür flattert diese vom Tisch, landet direkt vor den Füßen der jungen Dame. Sie beugt sich nach unten, hebt sie auf, platziert sie zwischen ihr und der Tasse Kaffee, die mittlerweile nicht mehr dampft, sondern einer kalten Brühe gleicht. Während sie davon einen großen Schluck zu sich nimmt, liegt das Blatt Papier zwischen uns beiden. Es ist ein stiller Zeuge ihrer und meiner Welt, die in Momenten wie diesen kollidieren. In den Strichen des scheinbar unscheinbaren Kunstwerks des Mädchens erkenne ich Visionen, die sich mit den längst vergessenen der Frau vermischen. Das unfertige Kunstwerk trägt bereits Spuren von großen Träumen. Das ungefähr skizzierte Kleid einer Prinzessin vor einem Schloss, aber auch eine Ärztin und Astronautin sind zu erahnen. Wirre Gedanken auf ein Blatt Papier gebracht, eventuelle Lebensträume, auch Ziele, welche erst sortiert werden müssen, die sich im Laufe der Zeit noch formen. Während die Frau immer noch konzentriert auf die Zeichnung starrt, lichtet sich zunehmend der Nebel vor ihrem inneren Auge.
In ihrer Kindheit hatte auch sie Träume, sehr viele sogar. Nach und nach verblassen jedoch diese Ambitionen oft unwillkürlich, wenn man sich vom Strom des Stresses mitreißen lässt. Auch wenn man versucht dagegen anzukämpfen, reicht dies des Öfteren nicht aus. Die Menschheit denkt, nur über dieses Wissen zu verfügen, reicht. Nein. Ihre Lebensaufgabe besteht darin, die Zeichnung namens Leben, die jedes Lebewesen bewusst oder unbewusst bereits mit der eigenen Geburt startet, im Zuge der Zeit zu vervollständigen. Das Ziel besteht nicht darin, möglichst schnell fertig zu sein, alles unter Zeitdruck zu erreichen, nein. Der Weg ist das Ziel, auch wenn dies vielleicht kitschig klingen vermag. Diese Zeichnung handelt von der persönlichen Lebensaufgabe. Natürlich kann man sich davor drücken, wahre Selbstverwirklichung ist dann jedoch nur schwer auffindbar. Am Ende des Lebens ist es nicht von großer Relevanz, welch herausragende Leistungen man in der Vergangenheit erbracht hat, sondern vielmehr, ob es eine individuelle, tiefeinhergehende Erfüllung darstellt, ob man diese von mir, der Zeit, zur Verfügung gestellte Ressource mitsamt dem eigenen Potenzial vollständig ausschöpft.
Dieser Gedankenstrom gleicht einer Vision, welche wie ein reißender Fluss am inneren Auge der jungen Frau im Café vorüberzieht. Überrascht zuckt sie zurück, schüttelt heftig ihren Kopf. Nicht aus Ablehnung, vielmehr aus Verwunderung. Diese hält aber nur für den Bruchteil einer Sekunde an. In diesem Moment wird ihr klar, was zu tun ist. Sie kramt einen Stift hervor. Genau wie das kleine Mädchen macht sie sich konzentriert an die Arbeit. Strich für Strich. All ihre Wünsche, Träume und Ziele fließen durch die Stiftspitze aufs Papier, übertragen ihre tiefsten, verdrängten Gedanken. Sie weiß nicht wie viel Zeit vergeht. Sekunden, Minuten, Stunden, wer kann das sagen. Es spielt keine bedeutende Rolle. Vielmehr steht das Glück der Frau ins Gesicht geschrieben. Die anfängliche Antriebslosigkeit löst sich auf, als sie ihr fertiges Kunstwerk betrachtet, das mit dem des kleinen Mädchens überraschenderweise Gemeinsamkeiten aufweist. Beide wünschen sich ein erfülltes Leben mit schönen Festen. Beide möchten ihren Beitrag zu der Welt leisten. Jede auf ihre eigene Art und Weise. Eventuell ist sich das fünfjährige Mädchen noch nicht über ihre Ziele im Klaren, aber im Verlauf der Jahre wird sie diese immer deutlicher erkennen. Die Frau beispielsweise möchte schreiben, den Mut aufbringen, ihren Inspirationen freien Lauf zu lassen, ihre Werke zu veröffentlichen und anderen Menschen damit zu helfen. Nicht im Traum hätte sie sich getraut, sich vorzustellen, diesen Traum zu verfolgen. Nun ist er zum Greifen nahe. Jetzt oder nie. Jetzt ist es nicht länger aufschiebbar. Sie fühlt sich so lebensfroh, so lebendig wie noch nie. Erfüllt von neuer Energie verlässt sie das Café, setzt sich zuhause an ihren Schreibtisch. Ihre Hände zitterten zunächst, dann fließen die Worte wie von selbst. Wort für Wort fügt sie ihren Gedanken hinzu. Ihr Plan wird greifbar. Bis spät in die Nacht arbeitet sie weiter. Als sie dann doch endlich erschöpft in ihr Bett fällt, fühlt sie Dankbarkeit für die heutige Begegnung. Alles passiert aus einem Grund. Wieder einmal wird ihr die Bedeutung dieser Satzkonstruktion klar.
Ein Lächeln huscht über mein unsichtbares Gesicht, als ich in ihre eisblauen Augen blicke. Für einen flüchtigen Moment scheint es, als ob sie mich wahrnimmt, doch dann ist der Moment auch schon wieder vorbei. Sie schläft ein. Mit einem leisen Rauschen, gleich einem Windhauch, ziehe ich mich zurück. Fortwährend bereit, der nächsten Person bei der Erkenntnis ihrer Herzensaufgabe tatkräftig zur Seite zu stehen und den hartnäckigen Nebel der Ungewissheit zu vertreiben.